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REISWERDER
DAS KLEINSTE RATHAUS BERLINS

Reiswerder: Landschafts- und Artenschutz und selbstgebrautes Bier 
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Der See ist an diesem Morgen so glatt, dass sich die Bäume am Ufer darin spiegeln. Es ist kurz vor 9 Uhr morgens, und schon von Weitem ist die kleine Fähre Reiswerder zu sehen, die zum Fähr- und DLRG-Bootssteg des „Vereins der Naturfreunde von Baumwerder- Reiswerder 1914“ (VNBR) am Festland tuckert. Es ist Freitag, da fährt Matthias stündlich hin und her. „Die Vereinsmitglieder wollen ja schließlich ihr Wochenende auf Reiswerder verbringen“, sagt der Rentner, der früher – schon seit 1968 – Ausflugsdampfer über den See steuerte.

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Reiswerder Fähre


Reiswerder ist 330 Meter lang und maximal 180 Meter breit – und sie besitzt als einzige der Tegeler Inseln ein eigenes Rathaus – samt repräsentativem Turm und Rathausuhr. Und so wird der Vereinsvorsitzende des VNBR auch gern mal mit „Herr Bürgermeister“ angesprochen. 

Bekannt ist, dass die Familie Bonus das Eiland schon früh bewohnte: Georg und Rosel Bonus wollten das Eiland bereits 1905 von der Stadt Berlin kaufen, doch erhielten sie lediglich einen Pachtvertrag zur landwirtschaftlichen Nutzung samt Fischereirechten. Um 1937 übernahmen Sohn Harald Bonus und Frau Margarethe den inzwischen auf Obstbau, Fischfang und Viehfutterhandel ausgerichteten Betrieb. Die restlichen Inselbewohner bestanden aus Angestellten, Campern und Wochenendausflüglern, denen Familie Bonus seit 1918 gegen eine kleine Pacht oder Mitarbeit einige Grundstücke für kleine Lauben, Häuschen oder Zelte zuwies.

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Anlegestelle für Paddelboote


Doch dann begann im Inselnorden eine wahre Besiedlungswelle – denn die Naturfreunde von Baumwerder mussten ihr Eiland verlassen (siehe Kapitel 6). Und so verschifften die Baumwerder-Naturfreunde ihre Zelte und Klapplauben stückweise über den See auf die Nordseite Reiswerders – zum Ärger der Familie Bonus, die auf diese Weise die Hälfte der Insel an Fremde abtreten musste. 1944 war der Umzug abgeschlossen. 

Dort, wo heute Udo Binder, der Wirt der Inselbaude, schmackhafte Kohlrouladen und andere leckere Hausmannskost anbietet, zog sich von da an die Grenze zwischen „Alt-Reiswerder“ und „Neu-Reiswerder“. Diese Fehde ist allerdings beigelegt – alle ziehen mittlerweile als kleiner ehrenamtlich und weitgehend ökologisch verwalteter „Inselstaat“ im Landschaftsschutzgebiet Tegeler See an einem Strang. 

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Inselbaude

Reiswerder war jedoch nicht nur „Ausweichinsel“ für die Naturfreunde aus Baumwerder, sondern auch Zufluchtsort für jüdische Mitbürger: Einfach weg sein und in Sicherheit – das war der Wunsch von Gerda Lesser und anderen jüdischen Männern und Frauen, die zwischen 1943 und 1944 nach Reiswerder kamen. Für sie war es alles andere als ein gemütlicher Ausflug ins Grüne. Im Gegenteil: Sie mussten vor der erbarmungslosen Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime fliehen, das den deutschen Bürgern jüdischen Glaubens das Leben seit 1933 zunehmend unerträglich machte. Als Versteck vor der drohenden Todesgefahr bot die Insel Reiswerder in den späten Kriegsjahren ideale Bedingungen. Hier versteckten sich die untergetauchten Jüdinnen und Juden und hofften, nicht entdeckt zu werden. Hilfe erhielten sie – wie später bekannt wurde – von Margarethe Bonus. Ganze 18 Monate lebten die Untergetauchten unerkannt und geschützt, wussten teilweise noch nicht einmal voneinander. Doch 1944 war die Ruhe auf dem Eiland vorbei: Erst fielen im Sommer 1944 erstmals Bomben auf Reiswerder und zerstörten ein gutes Dutzend Lauben. Wenige Wochen später, am sonnigen, friedlichen 23. August, wurden die fünf untergetauchten Jüdinnen und Juden entdeckt und von der Gestapo verhaftet, um nach Auschwitz und Buchenwald deportiert zu werden. Ein Spitzel hatte sie verraten. Das Buch „Untergetaucht auf Reiswerder“, geschrieben von der Schauspielerin und Filmemacherin Christiane Carstens – Insel-Liebhaberin und Vereinsmitglied –, erinnert an ihr Schicksal. 

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Eine der Lauben auf Reiswerder.


Nach dem Krieg ging das Leben weiter – auch auf Reiswerder. Doch es waren zu viele Lauben auf dem kleinen Eiland. Die Überlastung war auch der Räumung Baumwerders geschuldet, die viele zum „Insel-Hopping“ nach Reiswerder gezwungen hatte. Um der Natur also wieder mehr Raum zu geben, wurde 1975 eine teilweise Räumung der Insel angeordnet. „Zurzeit sind etwa 230 Lauben auf der Insel“, teilte der damalige Baustadtrat Joachim Gardain mit. „Es ist jedoch nur für 112 Platz vorhanden.“ 

Der Protest zahlreicher Inselbewohner war groß. Einige hatten die Räumung der Insel Baumwerder miterlebt, mussten von dort runter – und wollten nicht REISWERDER 34 erneut vertrieben werden. Doch der Protest war vergebens. Von den einst 260 Laubenplätzen sind 115 im Inselinneren übrig geblieben. Ein großer Bereich der Insel ist heute komplett der Natur überlassen – und zu einem Paradies für Reiher, Eisvögel und Teichrohrsänger geworden. Auch Wildschweine gibt es hier. Sie bleiben allerdings nicht im Naturbereich, sondern ziehen auch an den Lauben im Inselinneren vorbei. Eine Sau hat mitten im Komposthaufen der Insulaner ihre Ferkel zur Welt gebracht – und ihr Refugium auch gegen den Inselhausmeister verteidigt.

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Die Hauptstraßer auf Reiswerder.


„Willkommen beim Verein der Naturfreunde Baumwerder-Reiswerder 1914 e. V.“, heißt es heute auf der Website des Vereins VNBR. „Seit über 75 Jahren sind wir schon auf der Insel Reiswerder zu Hause – mitten im Tegeler See in einer kleinen Laubenkolonie ohne Strom aus der Steckdose oder fließend Wasser. Als Naturverein mit über 100-jähriger Tradition engagieren wir uns mit Leidenschaft für den Landschafts- und Artenschutz im Auengebiet der Insel Reiswerder.“ Um die Artenvielfalt auf der Insel Reiswerder zu erhöhen, hat das Umwelt- und Naturschutzamt des Bezirks Reinickendorf 2020 gemeinsam mit dem VNBR eine neue Pflanzliste entworfen. Auf ihr finden sich neben charakteristischen Auenwald-Pflanzen wie Schneeball oder Pfaffenhütchen gefährdete Arten wie Feld-Ulme oder Ohr-Weide. Die gebietseigene Herkunft aller Gehölze und Krautpflanzen ist gemäß Bundesnaturschutzgesetz für alle Neupflanzungen Voraussetzung. Sowieso – die Insel ist ein wahres Naturparadies: Auch zwei Biberburgen gibt es hier – eine davon ist so groß wie eine halbe Gartenlaube. Plötzlich endet die idyllische Stille – und ein Klappern, Rattern und Kratzen stört den friedlichen Morgen. Ein Waschbär ist nachts in den Mülleimer der Havelbaude geklettert und schafft es allein nicht mehr hinaus. Es ist eben Alltag auf der Insel, dass Entenvögel und Singvögel die Laubengrenzen ebenso wenig beachten wie Wildschweine, Waschbären und Marder. Doch Udo Binder befreit den kleinen Kerl, bevor er sich an die Vorbereitungen für das Mittagessen macht. Der Chef kocht fast täglich leckere Hausmannskost und bietet auch das eigens hier gebraute Bier an: die „Reiswerder Wildsau – Laube, Liebe, Hopfnung“, kreiert aus dem original Reiswerder Wildhopfen. In der Sommersaison fährt die kleine Fähre täglich im stündlichen oder sogar halbstündlichen Takt. Zwischen Oktober und März ist nur am Wochenende Fährbetrieb. Informationen: www.reiswerder.de.

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Solche Bauten wie diese Faltlaube zierten einst die Insel.
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